Gemälde Laufen von K.P.


Die Geschichte vom laufenden Baum

„…Komm, setze dich zu mir, ich möchte dir etwas erzählen.”
Einen kleinen Moment ließ er mich warten und zeigte dann zu einer großen, sehr alten Eiche. „Was meinst du, wie lange diese Eiche dort wohl schon steht, wie viele Jahre sie schon ihre Umgebung betrachtet?” Er sprach bedächtig.
„Wer alles lief wohl schon an ihr vorbei? Wer verweilte? Wer oder was ruhte sich an ihrem Stamm aus und fand unter ihren Zweigen Schatten? Wie viele Vögel wohl schon nach ihrem Flug Rast auf ihren Ästen und Zweigen suchten, und wie viele Insekten diese Eiche wohl besuchten?
Trotz der langen Zeit, die sie an diesem Ort verwurzelt ist, ist ihr nie langweilig. Sie unterhält sich mit ihren Nachbarbäumen, den großen Eschen links von ihr, mit der Birke dort hinten und auch mit der Linde hier, an der wir beide lehnen. Und natürlich auch mit den Vögeln, die von der weiten Welt berichten. Hin und wieder klettern Eichhörnchen an ihren Zweigen entlang und springen mutig von Ast zu Ast. Ganz zu schweigen von den unzähligen kleinen fleißigen Arbeitern, die mühsam an ihrem Stamm hinauf und hinab klettern, und dabei vielleicht zart ihre Rinde kitzeln.
Vor vielen Jahren begann in ihr eine Idee zu wachsen, aus der in weiteren langen Jahren ein Traum entstand, der sich immer mehr zu einem Wunsch verfestigte.
Eines Abends, als die Sonne schon sehr tief am Horizont stand und erstes Abendrot den fernen Himmel schmückte, gedachte die Eiche träumerisch des zu Ende gehenden Tages. In ihren Gedanken sah sie die Hasen, die in der Mittagssonne auf der Wiese tollten. Die Eiche versank sichtlich in ihrem Traum, so dass sie den Wechsel zur Nacht verträumte.
„Hallo, hast du ein ruhiges Plätzchen für mich an diesem Abend?” rief eine Eule in ihrem Anflug der Eiche entgegen. Erst langsam fand die Eiche aus ihrem Traum hinaus und vernahm die Frage; ordnete sich in bäumischer Ruhe, gab sich einen Ruck durch ihre Zweige, so dass ein Blätterrauschen erklang und sagte langsam mit tiefer Stimme: „Ach, du. Du bist sehr willkommen, wie immer.”
Umso später der Abend wurde, desto länger wurden die Geschichten, die die Eule zu erzählen hatte. Von einer Welt, die bereits hinter dieser Wiese begann, und für die Eiche unerreichbar schien. Diese Geschichten aber weckten eine Sehnsucht und lösten in ihr einen süßen Schmerz aus.
„Baum, hörst du mir noch zu?”, fragte die Eule und holte die Eiche erneut aus ihrem leisen Tanz von Traumgedanken. „Ich höre zu, erzähle nur weiter.” Skeptisch drehte die Eule ihren Kopf sehr langsam nach links und dann nach rechts, begleitet von einem fast rhythmischen Auf- und Zuklappen der Augenlider und blieb einen Moment still und bedacht. „Aber irgendwie sagt mir mein Gefühl, dass du nicht mehr aufmerksam bist. Du träumst doch. Langweile ich dich mit meinen Geschichten?” „Aber nein. Ich höre aufmerksam zu.” Die Eiche stockte kurz, ließ ein unsicheres Rascheln verlauten und sprach dann sehr langsam und tief weiter. „Besonders aufmerksam höre ich dir zu, wenn du von laufenden Hasen, Rehen, Pferden, Füchsen in deinen Geschichten erzählst. Ja, sogar der vorbeifließende Bach, in dem die erwähnte Ente schwamm, berührt mich sehr. Aber diese Bilder verführen mich auch zum Träumen. Also könntest du mit deiner Vermutung vielleicht doch auch Recht haben.” Das leichte Wippen der Zweige konnte ihre Verlegenheit nicht verbergen. „Aber ich höre dir zu!”, brummte sie ausdrücklich nach. „Träumen und gleichzeitig zuhören? Was träumt denn in dir, während du mir zuhörst?”
„Wenn ich deine Geschichten höre, in denen sich so gut wie alles bewegt, dann stelle ich mir vor, wie es sich wohl anfühlt.” Die zuvor fast unbeweglich dasitzende Eule wurde plötzlich unruhig. Vielleicht, weil sie eine Ahnung bekam, wohin dieser gedankliche Ausflug führte.
„Und, wie fühlt es sich an?”, fragte die Eule.
Stille umgab den Moment. Der ganze Wald spürte, dass die Eiche nachdachte. Es war, als ob der Wald den Atem anhielt. Ein leichtes Blätterrascheln durchbrach die Stille.
„Eigentlich habe ich keine Vorstellung davon.” Ihr tiefe Stimme war nun umgeben von einer leisen Traurigkeit. „In meinen Träumen laufe ich den Hasen und Rehen nach. Laufe mit ihnen um die Wette. Ich sehe mich laufen, wie sie. Aber fühlen? Wie es sich anfühlt? Ich weiß es nicht. Erzähle du mir, wie es sich anfühlt.”
Mit nun geschlossenen Augen, sagte die Eule: „Im Laufen bin ich nicht genug geübt, um dir davon zu erzählen. Und wie es sich anfühlt, ist wenn überhaupt, nur sehr schwer zu beschreiben. Das muss jeder für sich entdecken.”
„Und wie?”
„In dem du es selber tust!”
„Aber wenn man es nicht kann?”
„Ach so, hast du es schon einmal versucht?”
„Nein, wie denn.”
„Woher weißt du dann, dass du es nicht kannst?”
„Ich bin ein Baum und ich bin verwurzelt in der Erde. Bäume können nicht laufen. Niemals habe ich einen laufenden Baum gesehen.”

  Zum zweiten Teil


(Ein Auszug aus einem noch unveröffentlichten Roman von S.F. Ahrens)



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